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Blogger / Influencer

Influencerin Patti-Saoirse im Interview

von Overview

„Ich will als Teil der Gesellschaft wahrgenommen werden!“

Von Anna Butterbrod

Bis in die vierte Runde hat Patti-Saoirse es schon geschafft: 12 000 Teilnehmerinnen bewarben sich im Sommer für die Wahl zur Miss Germany, sie zählt inzwischen zu den den Top 40. Bei dem ehemaligen Schönheitswettbewerb geht es längst nicht mehr um Idealmaße und stereotype Weiblichkeit, sondern zum dritten Mal in Folge um Female Empowerment und Diversity. Die Kandidatinnen, von denen sich manche als nicht-binär identifizieren, punkten unter anderem dadurch, dass sie Verantwortung übernehmen und andere inspirieren. Beim Finale am 19. Februar 2022 wird die Siegerin verkündet.

Gewinnt Patti-Saoirse, wäre sie die erste transsexuelle Miss Germany. Mehr Menschen würden sie bemerken – und genau darum geht es der Kölnerin. „Trans-Aktivismus funktioniert durchs Dasein. Ich kämpfe für mehr Präsenz. Mir geht es darum, endlich als Teil der Gesellschaft wahrgenommen zu werden.“

Ihre Eltern brechen den Kontakt ab

Mit gerade mal 25 musste Patti-Saoirse schon so oft kämpfen, wie andere in ihrem ganzen Leben nicht. Und das, weil sie sich von kleinauf etwas wünschte, was das Normalste der Welt ist: „Ich wollte voll und ganz ich sein“, sagt sie. Doch das geht erst seit gut drei Jahren.

Denn Patti-Saoirse kommt 1996 als Junge zur Welt. „Aber auch, wenn ich männlich geboren wurde, war ich immer eine Frau“, betont sie. „Nur der Körper hat das nicht gezeigt.“ Als Kind macht sie sich darüber noch keine Gedanken. „Ich zog einfach gerne Kleider an und war im Kindergarten meist in der Puppenecke zu finden.“ Patti-Saoirses Eltern halten das für eine Phase, wie zum Trotz stutzt ihr Vater seinem Jungen jede Woche mit einem Elektrorasierer die Haare raspelkurz. Den Vornamen, mit dem er sie damals ruft, nimmt sie heute nicht mehr in den Mund. „So hieß ich zwar, aber das war ich nicht. Ich will ihn nicht mehr hören“, sagt Patti-Saoirse bestimmt. Ihre Eltern wollen diesen Umstand anscheinend verdrängen. Sie haben den Kontakt zu Patti-Saoirse abgebrochen. Weil das Mädchenhafte an ihrem Sohn eben doch nicht nur eine Phase war.

Heimlich stopft sie ihr Bustier mit Papier aus

Als Patti-Saoirse acht ist, entscheidet das Jugendamt, sie von ihren Eltern zu trennen. „Das hatte nichts mit diesem Thema zu tun. Die beiden haben sich nicht gut um mich gekümmert.“ Patti-Saoirse zieht in eine Familienwohngruppe, in der sich zwei Pädagogen wie Ersatzeltern um mehrere Kinder kümmern. Patti-Saoirse empfindet das als großes Glück: „Dort wurde mir erstmals Verständnis entgegengebracht. Ab da konnte ich das anziehen, was ich wollte, musste mich für nichts mehr entschuldigen oder schämen.“ Sie lässt sich die Haare wachsen und schlüpft erstmals in ein Bustier, das sie mit zusammengeknülltem Papier ausstopft. „Es sah nicht wirklich natürlich aus und für eine Achtjährige auch ein bisschen groß. Aber das war mir egal. Ich war glücklich.“ Für Patti-Saoirse steht da bereits fest: Ich möchte ein Mädchen sein!

In der Wohngruppe hat sie regelmäßig Kontakt mit Psychologen, die eine „Geschlechtsdysphorie“ (Geschlechtsidentitätsstörung) diagnostizieren. Mit dem Wort kann Patti-Saoirse noch nicht viel anfangen. Aber sie spürt täglich, was es damit auf sich hat. Die Schule besucht sie in „Jungs-Verkleidung“, zu der auch Boxershorts gehören, nachmittags zieht sie Röcke und Kleider an, traut sich damit sogar auch mal in den Supermarkt. „Aber ich wohnte außerhalb von Köln auf dem Land. Und da ist alles, was anders ist, erstmal schlecht.“ Es wird hinter ihrem Rücken getuschelt. Spricht jemand Patti-Saoirse auf ihre Ausflüge als Mädchen an, streitet sie alles ab – aus Angst vor Aggressionen.

Auf den Zusammenbruch folgt das Outing

Auf der Gesamtschule spitzt sich die Lage zu: Patti-Saoirse wird beleidigt und geschlagen, kommt mit blauen Flecken oder Kaugummi in den Haaren nach Hause. „Ich habe die meisten Angriffe still über mich ergehen lassen, habe immer alles in mich hineingefressen und versucht es auszuhalten“, erinnert sie sich. „Aber irgendwann ging das nicht mehr und ich bin zusammengebrochen.“ In der zehnten Klasse entscheidet sie sich in Absprache mit ihren Pflegeeltern, Psychologen und ihrem Klassenlehrer zum Outing. „Der Schuldirektor hat noch versucht, mich davon abzuhalten, weil er Bedenken hatte, dass mein Geständnis für Aufruhr sorgen würde.“

Aber Patti-Saoirse setzt sich durch: Vor den Osterferien geht sie das letzte Mal als Junge in die Schule, danach kehrt sie als Patti-Saoirse zurück, geschminkt und mit sorgsam frisierten Haaren. „Auf dem Weg zum Bus wollte ich es noch abblasen“, gesteht sie. „Ich hatte richtig Panik! Aber dann wurde alles anders als gedacht.“ Anfangs gab‘s noch irritierte Blicke, doch das gewohnte Mobbing blieb aus. „Ich hütete kein Geheimnis mehr, vielleicht nahm ich den anderen dadurch die Angriffsfläche. Viele Mitschüler:innen gingen ab da offener auf mich zu und brachten mir mehr Respekt entgegen.“

Hormontherapie – und endlich der neue Name im Ausweis!

Noch schwerer als das Outing ist der nächste Schritt: Patti-Saoirse möchte mit einer Hormontherapie beginnen. Weil sie noch minderjährig ist, dürfen ihre leiblichen Eltern darüber entscheiden. Doch sie entziehen sich dieser Aufgabe. „Und damit trafen sie natürlich trotzdem eine Wahl“, sagt Patti-Saoirse bitter. Den einzigen Ausweg sieht sie darin, ihren Eltern das Sorgerecht entziehen zu lassen. „Beim Gerichtstermin habe ich sie zum letzten Mal gesehen.“ Dennoch bereut sie diesen Weg nicht: „Ich habe mich gegen meine Eltern und für meinen Weg entschieden. Es war der vielleicht egoistischste Schritt in meinem bisherigen Leben, aber es war der richtige. Das war der Startschuss dafür, dass ich äußerlich der Mensch werde, der ich innerlich schon immer war.“

Mit 18 beginnt Patti-Saoirse die Hormontherapie, ein Jahr später nimmt sie ihre Namens- und Personenstandsänderung in Angriff. Sein Geschlecht auf dem Papier zu ändern, ist in Deutschland eine komplizierte Angelegenheit. Das geht nur durch ein langwieriges Verfahren und Gutachten von Psychologen. Die Kosten für den Antragsteller: rund 2000 Euro. „Zu einem der Gutachter oder Gutachterinnen darf man vorher noch keinen Kontakt gehabt haben“, erklärt Patti-Saoirse. „Meiner war total unsympathisch. Normalerweise wäre ich nach fünf Minuten rausgegangen, aber dafür stand zu viel auf dem Spiel. Und so musste ich einem völlig Fremden darüber Auskunft geben, ob ich mich selbst anfasse und was für Unterwäsche ich trage.“ Das sei schlimmer gewesen als später die Operations-Schmerzen. Nach zwei Jahren hält sie endlich ihren neuen Ausweis in den Händen: Patti-Saoirse steht darauf. Patti ist ihr liebgewonnener Spitzname, den zweiten Namen, den sie „Sörsche“ ausspricht, entleiht sie sich von der irischstämmigen Hollywoodschauspielerin Saoirse Ronan. „Saoirse bedeutet Freiheit. Das sah ich als Zeichen!“

Auf Tiktok und Instagram macht sie jungen Transsexuellen Mut

Ein wirkliches Gefühl von Freiheit schenken ihr die zwei geschlechtsangleichenden Operationen, die 2018 folgen, sowie die Brust-OP 2019. „Heute fühle ich mich endlich wohl in meinem Körper“, sagt Patti-Saoirse, die ihre Entwicklung ab 2017 auf YouTube dokumentierte und nun auf TikTok und Instagram jungen Menschen Mut macht, die sich in einer ähnlichen Situation befinden. „Ich hätte damals jemanden gebraucht, der mir eine Richtung vorgibt. Ich freue mich, das ich heute so eine Funktion übernehmen kann.“

Auch, wenn Patti-Saoirse sich persönlich frei fühlt, muss sie sich als Transfrau doch noch häufig erklären. „Ich wünschte, mehr Menschen würden es halten wie mein verstorbener Opa“, meint sie. „Der sagte zu mir: ,Ich verstehe es nicht, aber ich akzeptiere es.‘ Und so ist es doch: Man muss nicht alles auf der Welt verstehen. Aber hinnehmen sollte man es trotzdem.“

Gegen Bodyshaming schreibt sie ein Buch und tanzt in Unterwäsche

Damit das geschieht, spricht Patti-Saoirse, die während ihres „Geschlechterkampfes“ erfolgreich Ausbildungen zur Kinderpflegerin und Erzieherin absolvierte, offen über das Thema Transsexualität. Sie hält Vorträge vor Medizinstudenten und schreibt das autobiographische Buch „Mein Weg zu mir“.

Durch die Teilnahme bei der Wahl zur Miss Germany hat Patti-Saoirse öfter als früher mit Hatern zu kämpfen, die ihr online hässliche Kommentare über ihren Körper oder ihre Sexualität schicken. Sie versucht, denjenigen mit schlauen Argumenten den Wind aus den Segeln zu nehmen. „Aktivismus ist, wenn man gegen etwas angeht und die Klappe aufmacht“, betont sie. „Es gibt einige, die durch den Dialog mit mir ihre Meinung überdenken. Bei anderen ist Hopfen und Malz verloren.“ Patti-Saoirse macht trotzdem weiter. „Diskriminierung ist für mich keine Meinung.“

Im März 2021 trat Patti-Saoirse in einem Musikvideo von Sängerin und Influencerin Silvi Carlsson, 29, auf. In deren Song „Es reicht“ geht es um Bodyshaming, Sexualität und Solidarität. Patti-Saoirse tanzt nur in Unterwäsche vor der Kamera. „Ich bin ja nicht die Schlankste, daher hat mich das schon Überwindung gekostet“, verrät sie. „Aber letztendlich war es ein tolles Erlebnis, das mein Selbstwertgefühl unendlich gepusht hat.“

Eine Zeile im Song fasst schön in Worte, warum Patti-Saoirse sich weiter für mehr Akzeptanz einsetzt. „Ich schulde dir nicht, dass du zufrieden mit mir bist“, heißt es da. Patti-Saoirse will keinem Ideal entsprechen. Sie will mit sich selber glücklich sein, so wie sie jetzt ist. Und wünscht sich, dass andere genauso empfinden. „Was ist schon normal?“, fragt Patti-Saoirse. „Kein Mensch ist wie der andere. Praktisch gesehen ist es genauso normal, dass alle unterschiedlich sind.“

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